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Spezielles  » Lesefutter  » Konzerterfahrungsbericht

Gelegentlich kommt es einmal vor, dass ich mir ein Konzert von der anderen Seite der Bühne von Publikumsseite aus besuche. So auch letztens, Ort, Zeit und Namen der beteiligten tun eigentlich nichts zur Sache. Das Programm verhieß Gutes, Schuberts Unvollendete, Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 und die Uraufführung eines – wer hätte es gedacht – zeitgenössischen Werkes unter Anwesenheit des noch lebenden Komponisten. Der Saal war ausverkauft, es wurden sogar noch zusätzliche Stühle aufgestellt, das Orchester gastiert jedes Jahr am Veranstaltungsort und hat sich anscheinend eine Beliebtheit aufgebaut, die durch den Erfolg des vergangenen Konzerts wohl noch verstärkt wurde. Damit haben wohl alle außer dem Veranstalter gerechnet, fünf Minuten nach offiziellem Konzertbeginn betritt ein Herr mit Mikrofon die Bühne und bittet um Geduld, es sei für den Abend lediglich eine einzige Kassiererin bestellt, niemand hätte mit einem derartigen Zulauf gerechnet, es tue ihm leid und er bitte weitere 15 Minuten um Geduld, bis auch der letzte zahlungswillige Besucher eine Karte erhalten hat. Ein filmreifes »oooh« zieht sich durchs Publikum, nervöses Rascheln und Raunen, hier und dort erheben sich schon wieder welche und suchen stille Orte oder nichtrauchfreie Zonen auf, um die gewonnene Zeit zu nutzen.

Dann ist es soweit, es gongt ein-, zwei-, dreimal und das Orchester betritt unter erwartungsvollem Applaus die Bühne. Der Konzertmeister – er ist trotz seines offensichtlich ausgewachsenen Alters auffallend klein und scheint sich dessen bewusst zu sein, versucht es durch besonders wichtiges Auftreten auszugleichen und macht es dadurch nur noch offensichtlicher – erbittet vom ebenfalls nicht ganz in das Orchester passenden Oboisten ein A, nimmt es aber nicht an sondern gibt es umgehend weiter. Was nicht verwunderlich ist, es kommt öfters vor das die Bässe das fragwürdige Privileg erhalten separat stimmen zu dürfen, ohne Beteiligung des restlichen Orchesters, da es sonst zu laut ist und sie (die Spieler) nichts mehr hören, was zu der Frage berechtigt ob sie während des Stücks, wenn die anderen dabei sind, nicht hören, was sie spielen (in der Regel jedoch der Fall). Gänzlich außer Acht gelassen wird dabei die Tatsache, dass bereits kurz vor dem Konzert die Bässe hinter oder auch auf der Bühne die Bässe gestimmt werden, mit Stimmgerät, nicht selten sogar mit dem Gerät der Oboe, bei Auftritt des Orchesters sind sie also schon gestimmt und alles was noch kommt ist Show. Aber keine Mutmaßungen, vielleicht haben sie ja nicht vorher gestimmt und erledigen das jetzt. Umso verwunderlicher ist jedoch, dass auch Celli und Bratschen zum Stimmen ansetzen, wild durcheinander, sieben Katzen finden keine Maus nicht, geschweige denn ein Bassist sein A. Die Geigen schweigen und belächeln innerlich vielleicht dieses Spektakel, nach Verklingen des letzten Instruments erhält zuerst der Konzertmeister und dann sämtliche andere Beherrscher dieses wunderbaren Instruments einen Kammerton erster Qualität. Hoffentlich haben die Bässe vorher gestimmt. Gnädig und großmütig wie er ist, gewährt der (nach seiner Auffassung wohl) einzig wahre Herrscher des Orchesters durch eine entsprechende Handbewegung schließlich noch den Bläsern die Erlaubnis zu stimmen, auch hier geht es weit weniger diszipliniert zu als erwartet, Klarinette und Oboe spielen noch schnell ein paar Einspieltöne, gerade so als ob sie in der letzten Stunde nicht dazu gekommen wären. Vermutlich haben auch sie schon gestimmt die Bühne betreten und wissen sich ihre Zeit durch virtuose Tonketten besser Gehör zu verschaffen als durch einen einzelnen, andächtigen Ton. Das kann ja heiter werden.

Der Konzertmeister hat, nachdem er zu diesem selbstlosen Akt der Organisation beinahe das Dirigentenpodest betreten hat, mittlerweile wieder neben seiner (auch im Sitzen viel größeren) Pultnachbarin Platz genommen, da betritt der diesjährige Dirigent die Bühne und, nach einer allumfassenden Verbeugung, schließlich sein Podest, das Schauspiel kann beginnen. Und es beginnt.

Nicht ohne Grund dient die »Unvollendete« in Süßkinds Kontrabass als Beispiel für ein Werk, welches ohne Kontrabass praktisch nicht gespielt werden kann. Nicht auszumalen also, als nach den ersten stimmungsvollen Takten der Vorfreude auf Kommendes die Basslinie nicht in die Gänsehaut verursachenden Tiefen der fünften Saite absteigt, sondern nach oben in die Oktave der Celli umschlägt. Kurz darauf, mir haben sich vor Schreck die Haare aufgestellt, klappt es wieder nach unten und die Bässe sind da, wo sie sein sollten. Vorsichtig schaue ich mich um, keine kreideweißen Gesichter entsetzter Bassisten, es scheint niemandem aufgefallen zu sein, dass von den fünf anwesenden Bassisten keiner einen Fünfsaiter spielt. Einen Vorwurf kann man ihnen nicht machen, sie sind von weit angereist und haben nicht ihr eigenes Instrument mitbringen können, spielen auf Leihinstrumenten irgendeines Musikhauses oder einer Hochschule, da muss man halt nehmen was man kriegt, und einen Fünfsaiter scheint es nicht gegeben zu haben, nicht einen einzigen, nicht einmal für Schuberts Unvollendete.

Aber das sind ja nur ein paar Takte wohliger Tiefe, auf deren Fehlen kann man sich einstellen, wenn auch nicht gern. Das Zusammenspiel innerhalb der einzelnen Gruppen ist gut, zwischen den Gruppen wird es schwieriger, was vielleicht an der fehlenden Schlagfertigkeit des Maestro liegen mag. Die Pauke zieht den Blickkontakt zu den Bässen jedenfalls den zum Dirigenten vor und tut gut daran, die Geigen scheinen sich nicht entscheiden zu können und laufen bei Synkopenstellen komplett aus dem Ruder, keine Ahnung wem hier ein Vorwurf zu machen ist, jedenfalls klappt es nicht. Bei leisen Stellen klingen sie recht heterogen, auch hier weiß man nicht, ob es an dem Profilierungsbedürfnis Einzelner (»auch unwichtige Noten werden wichtig wenn ich sie spiele«) oder den Tücken des Konzertsaals (»es kommt mir auf einmal so schrecklich leise vor, ich muss lauter spielen«) liegt. Das Fagott biegt bei seinem Solo im zweiten Satz fälschlicherweise von Dur nach Moll (oder andersherum?) ab, ansonsten verläuft der Schubert weitgehend pannenfrei.

Nach dem ruhigen Ende des langsamen Satzes – untypischer Schluss für eine Sinfonie, aber sie ist ja nicht umsonst »unvollendet« – brandet der Applaus gegen die Bühne, triumphierend darauf auf seinem Podest der Dirigent, Bezwinger der aus dem ersten Satz nachklingenden orchestralen Urkraft, in Ermangelung eines Solisten hält er sich selbst mit der Linken die rechte Hand in die Höhe, man könnte meinen er sei gerade eben Fußballweltmeister geworden. Und das, um bei der Metapher zu bleiben, nachdem der Ball gemütlich ins Seitenaus gerollt – nicht geschossen worden – ist. Nun ja.

Vor der Halbzeitpause steht noch etwas Zeitgenössisches auf dem Programm, man kann das Entsetzen vieler förmlich riechen, »Was passiert jetzt?«, »Tut es weh?« und »Wird es schlimm?«. Bald darauf kann man Entwarnung geben, nach einer Verbeugung des neu aufgetretenen Dirigenten und einer, er wollte schon fast anfangen, etwas gestelzten Verbeugung hin zum Komponisten in der ersten Reihe, erklingt das Werk zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Nicht grässlich, nicht quietschend, vielleicht rhythmisch herausfordernder als die Sinfonie und mehr aus bruchstückhaften aber doch tonlichen »Bild«-Elementen zusammengesetzt, die einen jazzigen Ursprung vermuten lassen. Gegen Ende wird das Stück durch Zwischenrufe des gesamten Orchesters unterbrochen, parodiert durch einzelne Instrumentengruppen, jeweils wiederholt damit auch jeder den Witz merkt. Aber es überzeugt, die (vielleicht auch nur scheinbare) Spielfreude des Orchesters überträgt sich auf das Publikum, welches bereitwillig Beifall spendet ohne an die Gefahr einer vielleicht doch wieder weniger gefälligen Zugabe zu denken. Doch es kommt nicht dazu und nach zweimaligem Herangerufenwerden des Komponisten an den unteren Bühnenrand werden alle in die Pause entlassen.

Während der Großteil seinen Sekt schlürft, wird die Bühne für den vermeintlichen Glanzpunkt des Abends bereitet: Die höhenverstellbare Vorbühne scheint ausgefallen zu sein, jedenfalls beharrt sie in ihrer Position auf Saalniveau und der Flügel wird an die Position des Dirigentenpults geschoben und aufgeklappt, das Pult weicht Richtung Orchester, so dass man vom Dirigenten, wäre er so groß und schmal wie der Konzertmeister, nichts mehr sehen könnte. Auch die Abdeckung für die Noten wird seltsamerweise installiert. Nach dem bereits erlebten Stimmzeremoniell betritt der Solist die Bühne, der mich irgendwie an den Hilfsarbeiter aus den Dilbert-Cartoons erinnert, dessen Name so unaussprechlich ist, dass er nur der Albaner genannt wird. Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf, mit einem Mal wird mir klar, warum das Notenpult in den Flügel gelegt wurde. Er spielt zwar auswendig und ohne Noten, hat aber einen dermaßen starken Anschlag, dass jederzeit zu befürchten ist das sich die Mechanik aus dem Flügel löst und ihn erschlägt oder zumindest empfindlich im Auge trifft. Mit der Abdeckung jedoch: kein Problem. Nur hätte er gut daran getan, auch die Noten daraufzulegen, stellenweise fällt die linke Hand aus und lediglich die Rechte führt die Melodie noch gerade eben bis zum nächsten, rettenden Orchestertutti fort. Der zweite Satz ist versöhnlich, wirkt zumindest etwas weniger hart, doch im Dritten ist irgendein falscher Offset im Programm (er wirkt wirklich recht mechanisch wie ein antiker Spielautomat), die Sprünge der rechten Hand sind zwar atemberaubend und schnell aber leider fünf Zentimeter zu tief. Der Dirigent versteckt sich hinter dem Flügel, dirigiert auch die Solopassagen voll aus, in großen Bewegungen, mit dem Rücken zum Solisten, keiner von beiden sieht etwas vom Anderen. Aber es wirkt so überzeugend, dass sich zwei Gedanken aufdrängen: Entweder besteht eine tiefe Verbindung zwischen beiden, bei der jeder weiß was der andere macht. Oder aber es ist ein großartig inszeniertes Schauspiel, bei dem der Dirigent so dirigiert wie er gerade hört, ohne noch groß formenden Einfluss darauf nehmen zu können. An die dritte Möglichkeit einer einstudierten und immer wieder gleichförmigen Spiel- und Dirigierweise wage ich lieber nicht zu denken.

Irgendwann ist es überstanden, sogar die Zugabe zu der er sich unverständlicherweise hinreißen lässt und die noch viel unverständlicher ebenfalls mit Fehlern durchsetzt ist. Relativ gesehen fallen die falschen Töne bei der Vielzahl an sonst in kurzer Zeit gespielten jedoch kaum ins Gewicht. Störend nur, dass sich die rechte Hand kaum weiter als 15cm vom Rand, wo die hohen Töne sitzen, fortbewegt hat, und mit solcher Penetranz in die Tasten geschlagen hat, dass mir heute noch die Ohren klirren. Doch auch hier wieder nicht enden wollender Applaus, der Konzertmeister bekommt, weil er sich voll und ganz dem Publikum zuwendet, dem er seine Geige präsentiert, nur einen »hast-Du-gut-gemacht«-Schulterklopfer vom Dirigenten, dann ist es vorbei, der Saal wird fluchtartig geräumt. Mal schauen, was in der Zeitung steht. Vielleicht »ein außergewöhnliches Konzert«?